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Demokratie und Parlamentarismus

Michael Seibel • Generelles zu Symbolfunktionen   (Last Update: 31.08.2018)

Grob eingeteilt haben Parlamente vier Grundfunktionen: eine Repräsentationsfunktion, als das sollten sie nicht nur den Wählerwillen artikulieren, sondern auch die soziale Milieus und Klassen ihrer Wähler, – eine Rekrutierungsfunktion, in Deutschland z.B. bei der Kanzlerwahl, – ihre Gesetzgebungsfunktion und eine Kontrollfunktion gegenüber der Regierung. Die genaue Definition dieser Funktionen und der Umfang der damit verbundenen Kompetenzen verschiebt sich fortlaufend. Die Kontrollmöglichkeiten der Parlamente werden zunehmend geringer, die Rekrutierungsfunktion hat einen Aufstieg erlebt. Die Repräsentationsfunktion hat sich stärker gewandelt als die Gesetzgebungsfunktion.

Die Ansprüche der Wähler, ihre eigene soziale Stellung auch in den Biographien ihrer Vertreter widergespiegelt zu sehen, hat abgenommen. Die SPD-Abgeordnete Petra Hinz räumte 2016 ein, Abitur und einen Jura-Studienabschluss in ihrem Lebenslauf erfunden zu haben und sah sich in Folge dessen zum Mandatsverzicht gezwungen. In den 60er und 70er-Jahren hätte niemand in der SPD von einem führenden Politiker der Partei eine akademische Ausbildung erwartet. Georg Leber etwa brachte es als gelernter Maurer zum Verkehrs-, Post-, Verteidigungsminister und zum Bundestagsvizepräsidenten.Die Parlamentarier sind ihren Wählern unähnlicher geworden. Sie sind immer weniger Angehörige der gleichen Region, des gleichen Geschlechts, des gleichen Berufs oder der gleichen sozialen Schicht.


Der Einfluss der Wähler auf die Auswahl der Repräsentanten wird auch dadurch gemindert, dass die jeweiligen Kandidaten durch ihre Parteien vorausgewählt werden. Die Ferne der Repräsentanten vom Wähler wird aber in der Medien- und Stimmungsdemokratie durch gesteigerte responsiveness für die Wünsche der Wähler und durch Öffentlichkeitsarbeit der Funktionsträger entlang von Umfrageergebnissen kompensiert.


Die Bedeutung der Parlamente in der Gesetzgebung scheint innenpolitisch wie außenpolitisch eher geringer zu werden. Außenpolitisch bestehen z.B. Entparlamentarisierungstendenzen durch Souveränitätsverzichte der nationalen Parlamente zugunsten der EU, von der zudem eine Fülle von Impulsen für die Gesetzgebung der nationalen Parlamente ausgehen. Man sagt, dass in Deutschland ca. 20 % aller Gesetze und Verordnungen von der EU angestoßen werden. Aber auch über die EU hinaus hat die internationale Politik einen Einfluss auf die nationalen Parlamente. Völkerrechtliche Verträge stellen häufig die Hälfte aller Akte mit Gesetzeskraft dar. Die europäische Rechtsprechung gewinnt zunehmend mehr bindende Bedeutung für die nationalen Parlamente. Immer mehr Materien wandern von den nationalen Parlamenten weg. Die nationalen Parlamente rutschen gegenüber der EU in die Rolle von Lobbyisten ab.

Dazu kommt, dass in der Außenpolitik den Repräsentanten einen geringere Rücksichtnahme auf Wählerwünsche abverlangt wird als in der Innenpolitik. Außenpolitik interessiert die meisten Wähler wenig, wenn es nicht gerade um „out of area-Einsätze“ von Nato-Staaten oder den EU-Beitritt geht.

Nationale Parlamente werden gleich aus zwei Richtungen durch Europäisierung bei gleichzeitiger Regionalisierung in ihrer Arbeit beschränkt. Während immer mehr Materien, die Sache der nationalen Parlamente waren, von Europa geregelt werden, versuchen gleichzeitig regionale Interessengruppen, sich auf Kosten der nationalen Parlamente über die Regionalpolitik der EU Geltung zu verschaffen.


Innenpolitisch ist beobachtbar, dass im Stadium der Politikformulierung Medien und wissenschaftliche Beratungsgremien, die mit den Ministerien zusammenarbeiten, stärker gehört werden. Im Stadium der Entscheidung ist die Regierung der Hauptinitiator der Gesetzgebung. Die Eigeninitiative der Parlamentarier in der Gesetzgebung ist zudem zu einem guten Teil durch Initiativen von Beiräten, Verfassungsgerichten oder internationalen Organisationen ersetzt. Durch die Zusammenarbeit von Ministerien und Parlamenten mit Lobbyisten verschiebt sich lagert die Gesetzes-Vorbereitung in außerparlamentarische Beratungsgremien, runde Tische und Arbeitsgruppen der Parteien. Dadurch verändert sich die Aufgabe der Parlamente. Sie werden zum Ort, an dem sich Netzwerke von Akteuren aus Parlamentariern, Parteien, Interessengruppen, Ministerialbürokratie und Bundesländern koordinieren.

Zudem hat der Kontrollumfang auch der parlamentarischen Gesetzgebungsarbeit durch Verfassungsgerichte und den Europäischen Gerichtshof zugenommen. Wenn früher gesagt wurde, das britische Unterhaus könne im Prinzip entscheiden, was es wolle und sei es mit nur einer Stimme Mehrheit, trifft das, solange Großbritannien noch EU-Mitglied ist, sicher nicht mehr zu.



Dem Parlament verbleiben allerdings wesentliche symbolische, die Legitimitätsproduktion betreffende Funktionen, die im öffentlichen Diskurs in den Vordergrund gestellt werden, ohne dass ich mich an dieser Stelle dem Urteil anschließen möchte, dass sie im behaupteten Umfang konstitutiv für den Bestand der Sozialordnung sind. Bei der Diskussion über die Gefährdungen der parlamentarischen Demokratie beginnt man heute oft und gern mit Beobachtungen veränderter Sprachbilder (z.B. 'Asyltourismus') und der diskursiven Umgangsformen, die rauer zu werden scheinen. Man riskiert damit einen verengten Begriff von Legitimität, als sei Legitimität im Grunde Höflichkeit. Wenn Legitimität Höflichkeit möglich macht, heißt das noch lange nicht, dass umgekehrt Höflichkeit zu Legitimität führt oder Unhöflichkeit Legitimität zerstört. Dass die symbolische Bedeutung der Parlamente eine ihrer wesentlichen Funktionen ist, scheint mir ganz unabhängig davon, ob es stimmt oder nicht, zunächst einmal unverstanden.


Generelles zu Symbolfunktionen


Es dürfte nützlich sein, einen Vergleich mit der symbolischen Funktion des Geldes anzustellen. Geld ist zweifellos ein hoch symbolisches Medium. Würden ständige öffentliche Schmähungen einer Währung deren Wert gefährden oder nicht? Offenbar ist jede den Euro betreffende Äußerung eines Mario Draghi bis ins letzte Beiwort wohl abgewogen. Das deutet massiv darauf hin, dass die Ebene des Symbolischen eine konstitutive Seite für den Geldwert hat. Aber – und das ist wohl entscheidend – das hat sie in einem globalen Finanzsystem, das die globale und praktisch unbegrenzte Möglichkeit der Währungsspekulation bietet. Ohne diese Möglichkeit könnte ein Draghi sich bei weitem bedenkenloser äußern. Davon auszugehen, dass es sich im Verhältnis von Parlament und Öffentlichkeit ganz ähnlich verhält, dass öffentliche Diffamierungen, wie sie etwa von Pegida kommen, dem Parlamentarismus und der Demokratie substantiell schaden, und dass die symbolische Aufgabe des Parlaments mit der eines Mario Draghi vergleichbar ist, heißt zu unterstellen, dass der Parlamentarismus und die demokratische Legitimitätsproduktion einem ganz ähnlichen Mechanismus der institutionellen Verankerung folgen wie die Geldwertbestimmung des globalen Finanzsystems. Das halte ich zwar für der Prüfung wert und für eine interessante, wenn auch steile These, vermute aber, dass sie sich als falsch herausstellen dürfte, schon allein deshalb, weil im globalen Finanzsystem einzelne finanzstarke Akteure instantane Systemreaktionen erzeugen können, die jede Äußerung eines Zentralbankpräsidenten ohne Zeitverzug von der Ebene der Worte auf die Ebene der Werte verschieben und weil das globale Finanzsystem als Ordnung ein Konstruktionsergebnis von Finanzpolitik und als das beschreibbar ist. Einer solchen Ebenenverschiebung, sozusagen einer Real-Werdung des Symbolischen entspräche wohl, was die parlamentarische Arbeit angeht, eine Verschiebung vom Parlament auf die Straße. Nach allen bisherigen Erfahrungen mit Revolutionstheorien halte ich diesen Übergang für nicht im Sinne von Grund-Folge-Beziehungen einholbar. Aber wer weiss, vielleicht müssen wir uns in diesem Punkt belehren lassen. Wie man heute erlebt, ist eine relativ schnelle und massenweise Mobilisierung durch sozial media heute möglich. Es wäre dennoch verglichen mit dem weltweiten Hochfrequenzhandel der Finanzwirtschaft (der Vorhersagbarkeit für die Akteure nur deshalb schafft, weil er kurzzeitige Oligopole schafft) nur eine Art politisches Zeitlupen-Spekulationssystem mit derart vielen Eingriffschancen für alle Akteure, dass sich kein bestimmtes Ergebnis erwarten ließe.




Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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